Frühe Förderung hilft Kindern aus belasteten Familien

Tagungsrückblick

Kinder aus benachteiligten Familien starten oft mit schlechteren Bildungschancen. Die ZEPPELIN-Studie zeigt: Frühe Förderung verbessert ihre Startchancen in der Schule. Für eine wirkliche Bildungsgerechtigkeit braucht es jedoch eine langfristige Unterstützung.

Diskussionsgäste auf dem Podium, ZEPPELIN-Tagung 01. März 2025

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Alex Neuhauser Titel Dr. phil.

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Senior Researcher

Peter Klaver Titel Prof. Dr.

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Leiter Zentrum Forschung und Wissenstransfer / Professor

Belastete Familiensituation. Die Mutter von Moira erinnert sich noch genau an die schwierige Zeit, als ihre Tochter geboren wurde. «Ich war alleinerziehend und habe mich auch wirklich extrem alleine gefühlt», sagt sie über diese Situation vor dreizehn Jahren. Sie braucht Unterstützung und nimmt deshalb am PAT-Programm «Parents as Teachers» teil. In den nächsten drei Jahren bekommt sie zwei Mal pro Monat eine Stunde Besuch von einer zertifizierten PAT-Elterntrainerin, die ihr Spielideen zeigt, das Vorlesen von Büchern in den Alltag integriert, den Fokus auf die Eltern-Kind-Interaktion legt. Heute besucht Moira die 6. Klasse. Hilft diese frühe Förderung, die Bildungschancen von Kindern wie Moira langfristig zu verbessern? Das ist die Leitfrage der Längsschnittstudie ZEPPELIN («Zürcher Equity Präventionsprojekt Elternbeteiligung und Integration»). Seit 15 Jahren untersucht sie rund 250 Kinder aus belasteten Familien – die Interventionsgruppe nahm am PAT-Programm teil, die Kontrollgruppe nicht. Mittlerweise besuchen die Kinder die Schule. Nun liegen die Daten der 3. Klasse vor.

Einblick in eine ZEPPELIN-Familie: Moira und ihre Mutter Simona beim Interview.

Bildungschancen verbessert. Das Wichtigste gleich vorneweg: Auch in der dritten Klasse sind die Effekte der frühen Förderung noch nachweisbar. «Wie bereits schon im Kindergarten haben die Kinder auch jetzt in der Schule eine bessere Selbstregulation», sagt Alex Neuhauser, HfH-Dozent und operativer Leiter der Studie. Im Unterricht ist das eine zentrale Fähigkeit: Die Kinder können zum Beispiel warten, bis sie an der Reihe sind, auch wenn sie die Antwort schon lange wüssten. Auch bei der Sprachentwicklung gibt es breit positive Effekte, auch wenn diese in der dritten Klasse «nur noch bei Kindern aus hochbelasteten Familien signifikant sind», wie Alex Neuhauser relativiert. Dies ist etwa beim Lesen der Fall. Eine Einschränkung muss man auch im Verhaltensbereich machen: Die Kinder aus der Interventionsgruppe zeigen weniger Verhaltensprobleme als die Kinder der Kontrollgruppe, aber die Unterschiede haben sich über die Jahre hindurch abgeschwächt. Die untenstehende Grafik fokussiert die von Lehrpersonen festgestellten Auffälligkeiten im Verhaltensbereich.

Die Grafik zeigt, wie die Effekte der Intervention im Laufe der Zeit schwächer werden. Links sieht man die beiden Gruppen: Die Interventionsgruppe (IG) umfasst Kinder aus belasteten Familien mit PAT-Förderung in den ersten drei Lebensjahren. In der Kontrollgruppe (KG) sind Kinder aus belasteten Familien ohne Förderung.
Die Verhaltensunterschiede zwischen den beiden Gruppen schwächen sich ab.

Beschreibung der Grafik

Die Grafik zeigt, wie die Effekte der Intervention im Laufe der Zeit schwächer werden. Links sieht man die beiden Gruppen: Die Interventionsgruppe (IG) umfasst Kinder aus belasteten Familien mit PAT-Förderung in den ersten drei Lebensjahren. In der Kontrollgruppe (KG) sind Kinder aus belasteten Familien ohne Förderung. Kinder aus der IG profitieren nach Einschätzung der Lehrpersonen bis zum Kindergarten, in dem sie besseres Verhalten zeigen als die Kinder der KG. In der Schule schwächen sich diese Unterschiede dann ab.

Kognitive Stimulation und Beziehung sind die Schlüssel. Für Alex Neuhauser spricht das aber nicht gegen die Wirksamkeit der frühen Förderung, im Gegenteil: «Was mich am meisten beeindruckt hat: Da kommt eine Elterntrainerin zwei Mal pro Monat vorbei – und wir können Effekte bis zur dritten Klasse nachweisen.» Er führt dies auf die Wirkmechanismen zurück. So zeigen die Daten, dass die verbesserte Selbstregulation der Kinder die Folge einer erhöhten kognitiven Stimulation ist. Je mehr die Kinder also zuhause durch Bücher, Gespräche und Interesse in ihrer Entwicklung angeregt wurden, desto besser haben sie gelernt, ihr Verhalten zu steuern und sich zu konzentrieren. «Auch die Qualität der Beziehung spielt dabei eine zentrale Rolle», führt Alex Neuhauser aus. Dies zeigt sich insbesondere bei jenen Kindern, bei denen die familiäre Belastung am grössten ist. «Die Studie hat eindrücklich gezeigt, dass eine frühe Förderung zu einer Verbesserung der Bildungschancen beitragen – insbesondere bei Kindern aus hochbelasteten Familien», so das Fazit von Alex Neuhauser.

Im Video-Interview erläutern Dr. Alex Neuhauser und PD. Dr. Michael von Rhein die aktuellen ZEPPELIN-Befunde.

Zu viel und zu wenig Frühförderung. Für die Bildungswissenschaftlerin Margrit Stamm ist das ein zentraler Punkt. «Beim Übertritt in die Schule öffnet sich die Schere zu Gunsten privilegierter Kinder», sagt sie im Rahmen ihres Tagungsreferates. Denn diese Kinder haben zu diesem Zeitpunkt bereits einen prall gefüllten Rucksack: «Ich sehe teilweise 3-Jährige, die bereits drei bis vier Förderangebote pro Woche besuchen.» Kinder aus gut situierten Familien sind laut Margrit Stamm häufig eine Art Projekt ihrer Eltern. Demgegenüber legt man bei Kindern aus benachteiligten Familien häufig den Fokus darauf, was sie nicht können. Und dementsprechend haben auch deren Eltern geringe Erwartungen an ihre Kinder. Für Margrit Stamm ist klar: «Frühe Förderung in der Schweiz ist entweder ein Zuviel oder ein Zuwenig.» 

Mehr Verpflichtung bei der Abklärung. Bei der Podiumsdiskussion an der Tagung werden diese Erkenntnisse in einen grösseren Rahmen eingeordnet. Das Fazit lässt sich in drei Punkten bündeln. Erstens: Die belasteten Familien müssen noch systematischer identifiziert werden. «Wir möchten bei der Abklärung eine Verpflichtung einbauen», sagt Laura Bucher. Die Regierungsrätin aus dem Kanton St. Gallen konkretisiert: «Bis die Kinder dreijährig sind, wollen wir sie alle einmal angeschaut haben. Ziel ist, dass uns niemand mit allfälligem Unterstützungsbedarf durch die Maschen fällt.» Was dabei beachtet werden müsste, betont die PAT-Elterntrainerin Daniela Zuber: «Man muss den Eltern aufzeigen, was der Gewinn einer Unterstützung ist, und was sie selber dazu beitragen können, damit es dem Kind langfristig besser geht. 

Ein Aufwand, der sich lohnt. Zweitens: Frühe Förderung lohnt sich. «Ich finde es sehr beeindruckend, dass man in der dritten Klasse noch Effekte messen kann», sagt der Entwicklungspädiater Michael von Rhein, der im Forschungsbeirat der ZEPPELIN-Studie sitzt: «Im Vergleich zu therapeutischen Massnahmen ist dieser Aufwand deutlich geringer.» Nationalrat Philipp Kutter schliesst daran an: «Im Vergleich zu möglichen Folgekosten ist das ein sehr günstiges Angebot», so der Co-Präsident von Alliance Enfance: «In der politischen Diskussion um die Bedürfnisse von Kindern ist das immer ein gutes Argument.»

Langfristige Bildungsstrategie. Drittens: Es braucht eine längerfristige Unterstützung. Die Effekte sind da, aber sie nehmen im Lauf der Zeit ab. «Es gibt eine Lücke im System», sagt Daniela Zuber: «Unser Ziel ist es, dass jedes ZEPPELIN-Kind eine Kita besucht.» Das ist auch ein Fazit der Diskussion: Frühe Förderung kann einen Unterschied machen – aber nur, wenn sie nicht als einmalige Intervention, sondern als erster Schritt in einer langfristigen Bildungsstrategie verstanden wird. 

Die Jubiläumstagung «Eltern erreichen, Kinder stärken – 15 Jahre ZEPPELIN» fand am 1. März 2025 in Zürich statt. Die Impulsreferate und ein Teil der Workshops wurden online übertragen. Die Tagung war ein Anlass des Instituts für Professionalisierung und Systementwicklung und wurde von Andrea Lanfranchi, Prof. em. Dr., und Alex Neuhauser, Dr., geleitet. 

Diskussionsgäste auf dem Podium

  • Laura Bucher, Dr. iur.: Regierungsrätin (SP, SG), Vorsteherin des Departements des Innern des Kantons St. Gallen.
  • Philipp Kutter: Nationalrat (Die Mitte, ZH) und Stadtpräsident von Wädenswil. Mitglied der nationalrätlichen Kommission für Bildung und Kultur und Co-Präsident von «Alliance enfance».
  • Michael von Rhein, PD Dr. med.: Leiternder Arzt Entwicklungspädiatrie Kinderspital Zürich, Forschungsleiter im Bereich der pädiatrischen Versorgung, Forschungsbeirat ZEPPELIN.
  • Daniela Zuber: Familienbegleiterin bei «zeppelin - familien-startklar», Pflegefachfrau FH mit Master in Sozialer Arbeit.
  • Steff Aellig, Dr.: Podiumsmoderation. 

Autoren: Steff Aellig, Dr., und Dominik Gyseler, Dr., HfH-Wissenschaftskommunikation (März 2025)