Behinderung und Sexualität: Interview mit Prof. Dr. Susanne Schriber
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Prof. Dr. Susanne Schriber ist Leiterin des Studienschwerpunkts Pädagogik für Körper- und Mehrfachbehinderte (Bild: HfH).
Am 10. November findet an der HfH die Tagung «Lust & Frust: Körper – Behinderung – Sexualität» Link zur Tagung statt. Wir haben Prof. Dr. Susanne Schriber, Co-Leiterin der Tagung, in einem Interview zum Thema befragt.
Wo sehen Sie die grössten Herausforderungen in der Arbeit mit Menschen mit Körper- und Mehrfachbehinderungen im Kontext mit Sexualität und Lust?
Ich würde sagen, dass das Bewusstsein bei Fachpersonen, in Institutionen wie auch in der breiten Bevölkerung deutlich gewachsen ist: Menschen mit Behinderungen haben sexuelle Bedürfnisse, haben ihre sexuelle Identität und ihre sexuellen Aktivitäten werden ihnen zugestanden. Noch vor 20 bis 30 Jahren war das nicht so. Die Herausforderung besteht gegenwärtig darin, dass man eigentlich hilflos ist, Menschen mit Behinderungen zu unterstützen, damit sie ihre Bedürfnisse leben können. Was ich an Veränderungen erwähne, klingt jetzt sehr positiv, es gibt aber auch heute noch viele Punkte in diesem Themenkomplex mit Verbesserungspotenzial, ich denke beispielsweise an die Themen «Homosexualität und Behinderung» oder «Elternschaft und Behinderung».
Was bedeutet das?
Sobald es in Sachen Sexualität ganz konkret wird, merken viele Frauen und Männer ohne Behinderung noch immer, dass sie Mühe haben. Wenn man sich beispielsweise überlegt, ob man sich wirklich vorstellen kann, mit einem Menschen zu schlafen, der nur ein Bein hat oder stark speichelt, kommen starke Gefühle und Vorstellungen mit ins Spiel. Da dominiert immer noch oft das Gefühl: das ist ein anderer Körper, ein im Sinne der Gesellschaft deformierter – ja latent gedacht vielleicht auch minderwertiger oder ekelerregender – Körper. Hier spielen sehr stark Normative, also gesellschaftlich vorgeprägte Vorstellungen eines idealen, attraktiven Körpers mit. Und das ist heute vielleicht stärker geprägt als noch vor 30 Jahren. Diesbezüglich entstehen grosse Barrieren zwischen Menschen mit und Menschen ohne Behinderungen. Eigentlich paradox zu den oben erwähnten positiven Veränderungen.
Inwiefern haben soziale Medien etwas mit dieser Entwicklung zu tun?
Die beeinflussen diese Entwicklung aus meiner Sicht ganz stark. Schauen Sie sich die Bilder an, die dort gepostet werden: Man sieht kaum jemanden, der von der Norm abweicht. Ganz allgemein kann man sagen, dass sich die Idealvorstellung eines gesunden, tüchtigen Körpers, den man auch ständig weiter optimieren kann und sollte, in den letzten 30 Jahren massiv verändert hat.
Wo liegen die grössten Unsicherheiten seitens Frauen und Männer mit Körper- und Mehrfachbehinderungen?
Primär möglicherweise gar nicht in Bezug auf Sexuelles, sondern auf Beziehungen und Freundschaften; eine Hauptfrage ist immer noch: Wie findet man jemanden für eine Beziehung, und wo finde ich diese Partnerinnen oder Partner? Überspitzt gesagt: Ab dem Zeitpunkt, an dem man eine Beziehung geschlossen hat und sich in dieser wohl und aufgehoben fühlt, behinderungsbedingte Aspekte ausdiskutieren konnte, wird die Sexualität als Problem sekundär. Interessant ist aber, dass Menschen mit Behinderungen teilweise selber in diesen Vorstellungen eines idealen Körpers gefangen sind.
Wie meinen Sie das?
Dass Menschen mit Behinderungen teilweise sich keinen Partner, keine Partnerin mit Behinderung vorstellen können. Gewiss, dafür gibt es auch praktische Gründe: Ferien mit zwei Rollstühlen sind aufwändiger als ein Rollstuhl und zwei kräftige Arme, die diesen verladen. Aber oft schwingt mit: Wenn eine Beziehung, dann muss das eine besonders schöne Frau sein, ein besonders starker Mann – es scheint, als würde ein «normaler» Partner höher gewertet oder gar als hätte er oder sie die Funktion der Kompensation eigener Unzulänglichkeiten.
Woran liegt das?
Dafür gibt es viele Gründe. Einerseits eben diese Idealvorstellung eines Körpers, den wir als Gesellschaft haben und aufrecht halten. Zudem haben Menschen mit Behinderungen weniger Zugang zum Sozialleben und zur sozialen Teilhabe, also weniger Möglichkeiten zur Kontaktaufnahme mit anderen. Das kann in einen «Teufelskreis» führen, der schliesslich für viele in der Frage mündet: Bin ich begehrenswert? Bin ich attraktiv? Habe ich Chancen auf dem «Markt der Beziehungen»? Ein Partner, eine Partnerin ohne Behinderung wertet dann das eigene Ich auf. Ich stelle aber auch fest, dass die jüngere Generation diesbezüglich positiver, offener und selbstbewusster eingestellt ist.
Daten Menschen mit Behinderungen anders als solche ohne?
Grundsätzlich natürlich nicht. Aber auch hier gibt es ein paar Punkte, die Herausforderungen mitbringen. Wann sage ich zum Beispiel, dass ich eine Behinderung habe, wenn die andere Person mich noch nicht gesehen hat? Oder später: Inwiefern läuft das Daten Gefahr, sich in eine Helferbeziehung zu verwandeln, vor allem wenn die andere Person selber keine Behinderung hat? Das ist anspruchsvoll zu durchschauen bzw. in eine gute Balance von «Beziehung und Helfen» zu bringen. Aber vielen gelingt dies, nicht zuletzt auch dank professioneller Assistentinnen und Assistenten, die im Alltagsleben Unterstützung leisten und damit die Liebesbeziehung schützen.
Nicht alle Menschen mit Behinderungen möchten eine Beziehung – manche möchten auch einfach nur Sex.
Genau, es gibt ja wie bei allen Menschen alle möglichen Vorlieben. Menschen, die vor allem ein intensives sexuelles Leben wünschen, Menschen, denen eine tragende Beziehung wichtiger ist als Sexualität. Wie gesagt, wie bei Menschen ohne Behinderungen gibt es hier alle Schattierungen, beziehungsweise die ganze Farbpalette.
Wie beurteilen Sie diesbezüglich die Arbeit von so genannten Berührerinnen?
Die ist in meinen Augen eine sehr wichtige Aufgabe und Arbeit. Der Umgang damit ist auch lockerer geworden. Gewisse Institutionen arbeiten heute mit Berührerinnen oder Sexarbeiterinnen zusammen. Berührerinnen haben eine differenzierte Ausbildung, verfügen über Wissen, hohe Empathie, Reflexionsfähigkeit und besondere Handlungskompetenzen in der Begegnung mit Menschen mit Behinderungen. Menschen mit schweren Mehrfachbehinderungen etwa können nicht klar kommunizieren, was sie möchten und vor allem, was sie nicht möchten. Da braucht es wirklich spezifisch geschulte Frauen und Männer, die ganz genau auf den Körper eingehen und ihn lesen können – ohne, dass verbale Kommunikation im Vordergrund steht. Berührerinnen beschränken ihre Arbeit allerdings in der Regel auf nicht-genitalen Sex – zum Beispiel sinnliche Massagen. Eine Sexualassistenz oder Sexualbegleitung hingegen führt aus, was Betroffene nicht selber können. Je nach Anbieterin beinhaltet dies auch Geschlechtsverkehr im engeren Sinne.
Was muss sich gesellschaftlich verändern, um Menschen mit Behinderungen ihre Lust zuzustehen?
Wir alle müssen unsere Vorstellung von gutem Sex immer wieder infrage stellen. Man nimmt Sexualität so tierisch ernst, das könnte aus meiner Sicht alles viel spielerischer sein. Dazu gehört auch die Enttabuisierung des entstellten Körpers, der Nacktheit und des Sex mit einem Körper, der eben nicht den Idealvorstellungen entspricht. Es gehört auch dazu, dass Sex nicht als Bedürfnis geäussert und nicht als Problem wahrgenommen wird. Wir sollten uns in Erinnerung rufen, dass es eben nicht bloss eine Form der sexuellen Befriedigung und Erfüllung gibt. Nicht jeder Mensch will auf die gleiche Art und Weise Sex, manche wollen gar keinen, manche mögen es total, wenn man sie nur an den Ohren stimuliert, manche möchten ganz klassischen Geschlechtsverkehr mit Penetration, die Möglichkeiten sind ja praktisch endlos. Und die sollten wir doch unbeschwerter und unverkrampfter entdecken, ausprobieren und geniessen können und dabei allen Möglichkeiten den gleichen Wert beimessen.
Prof. Dr. Susanne Schriber ist Leiterin des Studienschwerpunkts Pädagogik für Körper- und Mehrfachbehinderte.
Tagung am 10. November 2018
Sexualität, Intimität, Partnerschaft und Sinnlichkeit zu erleben ist ein Wunsch vieler und ein Recht aller. Für Menschen mit Körper- und Mehrfachbehinderung ist der Zugang zur eigenen Sexualität häufig erschwert und mit vielen Fragen und Unsicherheiten – auch des Umfeldes – verbunden. Am 10. November 2018 findet an der HfH eine Tagung zu diesem Thema statt. Weitere Informationen und Anmeldung.