Das Erholungshaus Adetswil: Persönliche Einblicke in eine heilpädagogische Institution
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Mit ihrer autobiografischen Erzählung gastierte die emeritierte HfH-Professorin Susanne Schriber am 5. November 2024 zu einer Lesung an alter Wirkungsstätte.
«Erholungshaus Adetswil: Die Jahre unter der Leitung von Schwester Loni Madliger 1956–1965» ist die Geschichte einer heilpädagogisch bedeutenden Einrichtung der Schweiz, erzählt aus ganz persönlicher Perspektive. Die Lesung stand im Kontext des 100-Jahr-Jubiläums der HfH. Zum Top-Thema
Die Institution Erholungsheim Adetswil, errichtet als Ort zur Prävention von Tuberkulose, später Heim- und Heilstätte für Kinder aus benachteiligten Familien, ist heute die Vereinigung St. Michael, bestehend aus einem Sonderschulheim und vier Betrieben für Menschen mit einer Beeinträchtigung. Auf dem Weg von seiner Gründung 1904 bis zur heutigen Nutzung hat die Institution viele Etappen durchlaufen, und sich mit den Bedürfnissen der Zeit entwickeln müssen. Susanne Schriber zeichnete im Rahmen der Lesung diese Entwicklung aus persönlicher Perspektive nach. Sie legte dabei den Fokus auf die Zeit der Institutsleitung durch Schwester Loni Madliger – Jahre, die für ihr eigenes Leben sehr prägend sind.
Im Wandel der Zeit. Gemeinsam mit der Autorin begeben wir uns ins Jahr 1950: Die Fallzahlen der Volkskrankheit Tuberkulose gehen zurück, das Erholungsheim Adetswil verliert seine Klientel. Die Gemeinnützige Gesellschaft des Bezirks Hinwil, Träger des Hauses, entwickelt daraufhin das Heim zu einem Ort für Kinder aus benachteiligten Verhältnissen. Die Trägerschaft beschliesst, auch eine Säuglings- und Kleinkind-Station zu eröffnen. Hier verbindet sich die Entwicklung des Erholungsheims mit dem persönlichen Lebensweg von Susanne Schriber. Sie wird als einer der ersten Säuglinge dort aufgenommen. Als sogenanntes Familienkind gehört sie bald zu einer Gruppe Kinder, die dauerhaft dort leben. Zu ihnen baut die Leiterin des Heims, Schwester Loni Madliger, eine besondere Beziehung auf.
Kraftort Adetswil. In ihrer Lesung beschreibt Susanne Schriber das Erholungsheim als Kraftort, der auf natürliche Heilkräfte von Natur, Licht und Luft setzt. Die Aufenthalte der Kinder sollen geprägt sein von viel Schlaf, Bewegung, gesunder Ernährung und seelischer Erholung. «Wurde das Tuberkulose-Präventions-Konzept also einfach auf eine neue Klientel, die verwahrlosten Kinder, übertragen?», Steff Aellig, der die Moderation der Veranstaltung übernahm, hakte nach. «Nein», widerspricht Susanne Schriber. «Mit Schwester Loni stellte die Stiftung eine Frau als Leiterin ein, die den Anspruch hatte, die Kinder nicht nur zu hüten, zu pflegen und zu verpflegen. Die Kinder sollten auch fröhlich und Kind sein dürfen.» Sie persönlich habe das Haus als einen solchen Ort empfunden. Trotz ihrer strengen, arbeitsamen, aufopfernden Art und ihrem grossen organisatorischen Talent konnte Schwester Loni dem Anspruch, eine persönliche Beziehung mit den Kindern aufzubauen, jedoch nicht gerecht werden. 80 Kindern mit ihren persönlichen Eigenheiten gerecht zu werden, war schlicht nicht möglich. Das Buch zeigt auf, wie Schwester Loni an diesem Anspruch und an den eingeschränkten Möglichkeiten, gutes Personal für die Betreuung der Kinder anzustellen, letztlich auch gescheitert ist und ihre Leitung nach neun Jahren abgab.
Gemischtwarenladen – ein Plus für Inklusion. Steff Aellig bezeichnete das Erholungsheim als «Gemischtwarenladen», der hohe Ansprüche an die Pädagogik stellt: Nebst immer noch einigen Kindern, die zur Tuberkulose-Prävention dort waren, kamen Kinder aus benachteiligten Familien, Kinder mit körperlichen Behinderungen und Kinder mit seelischen und psychischen Beeinträchtigungen in das Heim. Zu den Kindern mit einer körperlichen Beeinträchtigung zählte auch Susanne Schriber. Die Durchmischung, die für Schwester Loni als Leiterin eine grosse Herausforderung darstellte, war für Susanne Schriber persönlich sehr bereichernd: «Ich hatte starke, gute Erlebnisse, durch Kinder, die nicht beeinträchtigt waren. Sie haben mich motiviert, mich an Gegenständen hochzuziehen, ich habe mit dem Velo auf der Terrasse laufen gelernt, und wenn es in den Wald ging, gab es ein paar kleine Kinder, die im Wagen sassen, dann sass ich halt auch noch darin». So geben die Einblicke von Susanne Schriber auch einen Fingerzeig für den Erfolg inklusiver Bildungsmodelle von heute.
Forschung mit Persönlichem verwoben. Die Erzählung ist autobiografisch, aber gleichzeitig eine Erforschung der Geschichte der Heilpädagogik und der Institution. «Als Forscherin lag mir viel daran, die Arbeit von Schwester Loni und die der Frauen zu würdigen, die uns Kinder im Heim betreut haben», sagt Susanne Schriber an der Lesung. Für ihr Buch griff sie insbesondere auf Jahresberichte der Gemeinnützigen Gesellschaft des Bezirks Hinwil und auf Notizen von Schwester Loni zurück. Das Buch gibt einen starken persönlichen Einblick, wie Susanne Schriber die Jahre in der Institution erlebt hat. Aus ihren Erfahrungen und Schilderungen lassen sich Anknüpfungspunkte in die heutige Zeit finden. Eine lohnende Lektüre.
Die Veranstaltung fand am Dienstag, 4. November 2024 an der HfH statt und wurde online übertragen. Anschliessend liess man den Abend bei einem gemütlichen Apéro ausklingen und konnte sein frisch erworbenes Exemplar von Susanne Schriber signieren lassen. Die Lesung wurde moderiert von Steff Aellig, Senior Consultant und Teil des Teams Wissenschaftskommunikation.
Autorin: Nina Hug, Dr., Leiterin Hochschulkommunikation (November 2024)