Qualität des Erlebens von Lernenden in integrativen und separativen Schulformen

Kategorie Projekt

Ausgangslage und Ziele

Einem internationalen Trend folgend werden auch in der Schweiz Kinder und Jugendliche mitbesonderem Förderbedarf zunehmend in Regelklassen unterrichtet. Die sehr kontrovers geführte Diskussion über Pro und Contra schulischer Integration bildet den Ausgangspunkt der vorliegenden Studie. Eine differenzierte Antwort auf die Frage nach Vor- und Nachteilen integrativer bzw. separativer Schulformen hat sich neben grundlegenden soziopolitischen und ethischen Argumenten auch auf empirische Befunde zu stützen. Ein Überblick über die aktuelle Forschungsliteratur zeigt, dass die Effekte schulischer Integration gesamthaft betrachtet eher positiv zu beurteilen sind. Allerdings existieren noch immer Forschungslücken: So ist die Frage, wie Schülerinnen und Schüler den schulischen Alltag im natürlichen Lernkontext – also unmittelbar im Unterricht – subjektiv erleben, empirisch noch kaum systematisch untersucht worden. Obwohl beispielsweise bekannt ist, dass integrierte Kinder mit einer Lernbehinderung ein niedrigeres Begabungskonzept als ihre Mitschülerinnen und -schüler aufweisen, ist völlig unklar, ob dieser Unterschied im tagtäglichen Schulunterricht eine Entsprechung im emotionalen Erleben hat. An diesem Punkt setzt die Studie an: Ihr Ziel ist, einen Beitrag zur Frage zu leisten, ob und falls ja,welche Effekte die schulische Integration auf die Qualität des Erlebens von Kindern mit besonderem Förderbedarf im Unterricht hat. Das Interesse richtet sich dabei in erster Linie auf Kinder mit einer Schulleistungsschwäche oder einer Verhaltensauffälligkeit.

Projektleitung

Rupert Tarnutzer Titel Dr. phil.

Funktion

Emeritiert/Pensioniert

Martin Venetz

Funktion

Ehemaliger Leiter Zentrum Forschung und Entwicklung

Fakten

  • Dauer
    08.2008
    07.2010
  • Projektnummer
    1_11

Projektteam

  • Waltraud Sempert
  • Carmen L. A. Zurbriggen

Finanzielle Unterstützung

Fragestellung

Der Begriff «Qualität des Erlebens» beinhaltet dabei zwei unterschiedliche Aspekte: Einerseits misst sie sich an der Abwesenheit negativer Erlebenszustände wie Angst, Stress oder Ärger. Anderseits bezieht sie auch die Anwesenheit positiver Erlebenszustände wie Freude, Interesse, Begeisterung mit ein. Ein theoretisch und empirisch gut fundiertes Modell, das diesem Verständnis entspricht und der Studie zu Grunde gelegt wird, ist das Circumplex-Modell affektiver Zustände. Mit dem Modell lässt sich das gesamte Spektrum affektiver Zustände anhand der beiden (bipolaren) Dimensionen «Positive Aktivierung (PA)» und «Negative Aktivierung (NA)» sparsam und differenziert beschreiben. Die Idee, die Qualität des Erlebens im Unterricht zu erforschen, basiert auf neueren theoretischen Ansätzen und Forschungsergebnissen, die zeigen, dass das emotionale Erleben eng mit motivationalen und kognitiven Prozessen verknüpft ist und eine bedeutsame Rolle für das Lernen spielt.

Methodisches Vorgehen

Zur Gewinnung von Daten über das momentane affektive Erleben von Kindern im Schulunterricht wurde die Experience-Sampling-Method (ESM) eingesetzt. Konkret waren Schülerinnen und Schülerder sechsten Primarschulstufe während einer Schulwoche mehrmals täglich beim Ertönen eines Signals (das von einem Signalgeber wie z.B. einem Pager zufallsgesteuert abgegeben wurde) aufgefordert, ihr aktuelles Befinden sowie das Unterrichtsgeschehen in einem kurzen, standardisierten Fragebogen festzuhalten. Jeder Schulklasse wurden insgesamt 14 Signale zugesandt. Nach Abschlussder Untersuchungswoche füllten die Schülerinnen und Schüler einen konventionellen Fragebogen aus, mit dem unter anderen schulbezogene Selbstbilder erfragt wurden, wie z.B. das generelle emotionale und soziale Wohlbefinden in der Schule, die motivationalen Orientierungen oder das schulische Fähigkeitsselbstkonzept.

Die Stichprobe umfasst 719 Lernende (51% männlich) aus 40 Regelklassen mit integrativen Schulformen mit durchschnittlich 12.3 Protokollen (total über 8'800 Momentaufnahmen) und 102 Lernende (72% männlich) aus 11 Klein- und 11 Sonderschulklassen mit durchschnittlich 12.6 Protokollen (total knapp 1'300 Zeitpunkte).

Zur Bestimmung von schulleistungsschwachen oder verhaltensauffälligen Lernenden in Regelklassen wurden Schulleistungstests (Deutsch und Mathematik) bzw. ein empirisch überprüftes Screening-Verfahren (die Angaben basieren auf Einschätzungen der Lehrperson) herangezogen. Unter Anwendung von Grenzwerten weisen knapp 30% der Regelklassenkinder einen besonderen Förderbedarf auf (davon 64% mit einer Schulleistungsschwäche, 22% mit einer Verhaltensauffälligkeit und 14% mit Förderbedarf in beiden Bereichen).

Da für die Schülerinnen und Schüler in Klein- bzw. Sonderschulklassen keine Leistungstests durchgeführt wurden – übrigens, weil diese Tests nach Ansicht und Erfahrung der Lehrpersonen zu schwierig und frustrierend für ihre Lernenden seien – konnten nicht dieselben Kriterien zur Identifizierung von Schulleistungsschwächen wie bei den Regelklassenkinder angewendet werden. Für den Vergleich zwischen Lernenden mit besonderem Förderbedarf in integrativen und separativen Schulformen wurden deshalb etwas andere Vergleichsgruppen gebildet: Lernende in Kleinklassen wurden mit jenen Lernenden in Regelklassen kontrastiert, die besonderen Förderbedarf aufweisen oder einer sonderpädagogischen Massnahme zugewiesen sind.

Ergebnisse

Die Hauptbefunde zu den Vergleichen von Lernenden mit und ohne Förderbedarf in Regelklassenlassen sich wie folgt  zusammenfassen:

  • Lernende mit besonderem Förderbedarf verfügen – gesamthaft betrachtet – über ein weniger positives schulisches Selbstbild als ihre Mitschülerinnen und -schüler: Gemeinsam ist den verschiedenen Gruppen von Kindern mit Förderbedarf, dass es ihnen in der Schule inverstärktem Masse darum geht, anderen gegenüber fehlende Kompetenzen zu verbergen. Lernende mit einer Schulleistungsschwäche verfügen zudem im Mittel über ein deutlich niedrigeres schulisches Fähigkeitsselbstkonzept, während Lernende mit einer Verhaltensauffälligkeit sich als sozial deutlich weniger gut in der Schulklasse integriert beschreiben.
  • Das motivational-emotionale Erleben von Lernenden mit und ohne Förderbedarf im Unterricht unterscheidet sich – gesamthaft betrachtet – nur geringfügig; zudem fallen die Unterschiede je nach Art des Förderbedarfs qualitativ verschieden aus: Lernende mit einer Schulleistungsschwäche sind im Mittel etwas stärker positiv aktiviert (PA) und geben sich generell mehr Mühe. Die Ergebnisse zeigen aber auch, dass zwischen Lernenden mit einer Schulleistungsschwäche in der Qualität des Erlebens recht grosse Unterschiede festzustellen sind (interindividuelle Variabilität). Im Gegensatz dazu fühlen sich Lernende mit einer Verhaltensauffälligkeit im Unterricht im Mittel moderat stärker negativ aktiviert (NA); d.h. sie erleben mehr Stress. Auch weist ihr Erleben eine andere Dynamik auf: Ihr Befinden – vorallem NA – schwankt über verschiedene Situationen hinweg stärker (intraindividuelle Variabilität).

Die zentralen Befunde zu den Vergleichen von Lernenden mit besonderem Förderbedarf oder sonderpädagogischer Unterstützung in Regelklassen und Lernenden in Klein- oder Sonderschulklassen können wie folgt festgehalten werden

  • Schulbezogene Selbstbilder von Lernenden in integrativen und separativen Schulformen unterscheiden sich in Bezug auf zwei Dimensionen mit je unterschiedlicher Bedeutung: Einerseits schätzen in Regelklassen integrierte Kinder die sozialen Beziehungen in der Klasse im Mittel positiver ein als solche in Klein- oder Sonderschulklassen. Anderseits beurteilen Letztere ihre schulischen Fähigkeiten tendenziell höher – vor allem im Vergleich zu jenen Lernenden in Regelklassen, die besonderen Förderbedarf aufweisen und einer sonderpädagogischen Massnahme zugewiesen sind.
  • Die Qualität des Erlebens von Lernenden in integrativen und separativen Settings unterscheidet sich in bestimmten Aspekten, allerdings sind die Unterschiede gering: In Regelklassen integrierte Lernende mit einer Schulleistungsschwäche oder einer Verhaltensauffälligkeit und Lernende in Klein- oder Sonderschulklassen erleben den schulischen Unterricht sehr ähnlich; Erstere sind im Mittel geringfügig stärker negativ aktiviert (NA). Zu Einbussen in der Qualität des Erlebens scheint es in integrativen Settingsvor allem dann zu kommen, wenn bei einem Kind kein Förderbedarf in den Bereichen«Lernen» und «sozio-emotionale Entwicklung» besteht, es jedoch einer sonderpädagogischen Massnahme zugewiesen ist: Ein solches Kind ist im Unterrichtsalltag im Allgemeinen weniger positiv aktiviert (PA), stärker negativ aktiviert (NA) und weniger am Unterrichtsgeschehen beteiligt. Ein letzter Unterschied betrifft Merkmale des Unterrichtserlebens: Die aktive Beteiligung am Unterricht die Anstrengungsbemühungen im Unterricht schwanken bei Lernenden in separativen Schulformen deutlich stärker als bei integriert Lernenden.

Bilanz

Welche Schlussfolgerungen lassen sich nun auf dem Hintergrund der dargelegten Ergebnisse ziehen? In Bezug auf die Qualität des Erlebens kann erstens festgehalten werden, dass Kinder mit besonderem Förderbedarf in Regelklassen im Unterricht tendenziell mehr «Stress» (NA) erleben als Kinder inseparativen Schulformen. Allerdings gilt dies vor allem für integrierte Kinder mit einer Verhaltensauffälligkeit (Kinder mit einer Schulleistungsschwäche in Regelklassen erleben nämlich den Unterricht – verglichen mit ihren Mitschülerinnen und -schüler ohne besonderen Förderbedarf –positiver).

Zweitens: Keinen Effekt hat die schulische Integration offenbar auf die Positive Aktivierung (PA). Kinder mit besonderem Förderbedarf fühlen sich im Unterricht im Mittel gleichermassen motiviert, konzentriert und energievoll. In integrativen Schulformen scheint einzig die Zuweisung zu einer sonderpädagogischen Massnahme der Qualität des Erlebens (bezüglich PA und NA) dann abträglichzu sein, wenn kein besonderer Förderbedarf im Lernen oder in der sozio-emotionalen Entwicklung nachgewiesen ist.

In Bezug auf schulbezogene Selbstbilder kann drittens keine abschliessende Antwort formuliert werden: Ein positiver Effekt schulischer Integration ist, dass in Regelklassen integrierte Kinder sich sozial besser in die Schulkasse integriert fühlen als solche in Klein- oder Sonderschulklassen. Die«Kosten» der schulischen Integration sind darin zu sehen, dass in Regelklassen integrierte Kinder ein weniger positives Fähigkeitsselbstkonzept aufweisen und sich stärker an Vermeidungsleistungszielen orientieren.

Publikationen