Wie die Psychomotoriktherapie ans HPS nach Zürich kam

Reportage

Vor über 50 Jahren reiste Suzanne Naville ans Heilpädagogische Seminar nach Zürich, um den damaligen Rektor von der Psychomotorik zu überzeugen. Im Gepäck hatte sie drei Erfolgsrezepte, welche bis heute aktuell sind.

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Olivia Gasser-Haas Titel Dr. phil.

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Senior Lecturer / Leiterin Master Psychomotoriktherapie

Als Suzanne Naville im März 1969 aus dem Tram beim Kunsthaus steigt und entschlossen Richtung Heilpädagogisches Seminar (HPS) schreitet, hat sie ein klares Ziel: die Psychomotoriktherapie (PMT) in der heilpädagogischen Ausbildung zu verankern. Doch damit rennt sie keine offenen Türen ein. «Als Frau Naville mir ihre Idee vorgestellt hat, bin ich erstmal zusammengezuckt», blickt der damalige HPS-Rektor Fritz Schneeberger im Film «Bewegung ist mehr als Bewegen» später auf dieses Treffen zurück. Allein der Begriff der «Therapie» sei damals im heilpädagogischen Umfeld nicht salonfähig gewesen, «aber je länger ich zuhörte, desto mehr überzeugte mich ihr Ansatz», erinnert sich Schneeberger an dieses Treffen, das im Rückblick als Geburtsstunde der Zürcher Ausbildung für Psychomotorische Therapie bezeichnet werden kann.

50 Jahre Psychomotoriktherapie. Das Ergebnis: Seit 1972 wird die Ausbildung in Psychomotoriktherapie am Heilpädagogischen Seminar und später an der Interkantonalen Hochschule für Heilpädagogik in Zürich angeboten. Wie hat es Suzanne Naville damals geschafft, den Grundstein dafür zu legen? Zusammengefasst waren es drei Elemente, die es auch heute noch braucht, wenn ein Angebot erfolgreich lanciert werden soll: eine Erkenntnis, einen Bedarf und ein Aushängeschild. Aber der Reihe nach.

Erkenntnis zu auffälligen Kindern. «Suzanne Naville geht davon aus, dass sich der Mensch über die Bewegung ausdrückt», sagt Daniel Jucker, langjähriger HfH-Dozent und Erforscher der Professionsgeschichte. Die PMT-Gründerin Suzanne Naville sei überzeugt, dass die Bewegung über die Körpersprache Einblick in die Gefühlswelt gebe und sich so Emotionen ausdrücken lassen, die sonst verborgen blieben. Dies ermögliche einen Zugang zu Kindern und Jugendlichen, die sozial-emotional auffällig sind – aggressiv, impulsiv oder auch schüchtern und ängstlich. Wir haben Suzanne Naville im Sommer 2022 zu einem exklusiven Interview getroffen – eine Woche nach ihrem 90. Geburtstag. Im Gespräch mit der HfH-Studentin Patrizia Hangartner verrät Suzanne Naville, wie sich Zugänge zu schwierigen Kindern herstellen lassen.

Suzanne Naville über Zugänge zu schwierigen Kindern

Vorhandener Bedarf. Kindern mit solchen Auffälligkeiten bot Suzanne Naville zu jener Zeit am Kinderspital Psychomotoriktherapie an. Und das Angebot wurde rege genutzt. Damit hatte Naville mit der PMT in der Deutschschweiz, wie einige Jahre zuvor schon in Genf, einen Markt geschaffen. Bald aber überstieg der Bedarf deutlich das Angebot. Allein konnte sie den Andrang nicht mehr bewältigen. Die Lösung lag auf der Hand: Es mussten eine Vielzahl von PMT-Fachpersonen ausgebildet werden. Das Kinderspital war jedoch keine therapeutische Ausbildungsstätte, wie der Leiter Alfons Weber klar kommunizierte. Im Gespräch mit Daniel Jucker erinnert sich Suzanne Naville an die damalige Situation.

Suzanne Naville über den damals vorhandenen Bedarf an Psychomotoriktherapie

Persönlichkeit mit Ausstrahlung. Eine gute Idee und eine Marktnische reichen aber noch nicht. Es braucht eine Person, die dem Konzept ein Gesicht gibt, dieses inhaltlich prägt und am Puls der Zeit weiterentwickelt. Die charismatische Suzanne Naville war prädestiniert dafür. Sie suchte und fand ständig neue Zugänge zur Bewegung. «Während der gesamten Professionalisierung war die Disziplin der PMT offen für neue Ansätze der Bewegung», stellt Daniel Jucker fest. «Und diese Offenheit ist der Verdienst von Suzanne Naville.» So besuchte Naville schon vor ihrer Berufslaufbahn Meisterkurse im Ausdruckstanz und war fasziniert, weil nichts anderes die innere Welt der Gefühle so gut nach aussen transportierte. Später suchte sie als Schülerin von Mimi Scheiblauer einen eigenen Weg zwischen Tanz als künstlerischem Ausdruck und der Rhythmik als pädagogischem Ansatz. Das Fach Rhythmik war denn auch während langer Zeit für alle Studierende am HPS während des Grundjahres obligatorisch, verlor im Laufe der Jahre aber an Bedeutung. Im nachfolgenden Ausschnitt aus dem Video-Interview mit Daniel Jucker erläutert Suzanne Naville die Hintergründe.

Suzanne Naville über die Bedeutung von Tanz und Bewegungslehre

Psychomotorik-Studierende am HPS mussten darüber hinaus Klavier spielen können: «Wenn du nicht so die Pianistin gewesen bist, hast du ein bisschen gelitten», fasst Daniel Jucker die Erfahrungen von Kolleginnen zusammen. In der Basler PMT-Ausbildung wurden Studierende ab 1988 mit diversen persönlichen Musikinstrumenten zugelassen. Am HPS hielt man dagegen lange noch an der Klavierimprovisation fest, bevor die musikalischen Themen mit dem Übergang zur Hochschule zu Wahlfächern wurden. Warum aus Sicht von Susanne Naville das Klavier den anderen Instrumenten überlegen war, erklärt sie im Video-Interview mit der HfH-Studentin Patrizia Hangartner.

Suzanne Naville über die Bedeutung des Klaviers

Neue Akzente. Suzanne Naville hat die Professionalisierung des Fachgebiets bis 1996 entscheidend geprägt, immer wieder neue Akzente gesetzt und die Therapie so weiterentwickelt, dass sie den Bedarf der Schule abdecken konnte. Aber so sehr das Fachgebiet PMT in Bewegung war und ist – der rote Faden besteht darin, dass sie stets Kinder und Jugendliche mit sozial-emotionalen Auffälligkeiten im Fokus hat. Eine wahre Erfolgsgeschichte also – die man so nicht unbedingt vermuten konnte, als Suzanne Naville vor über 50 Jahren über die Schwelle des Heilpädagogischen Seminars (HPS) trat.

Literaturhinweise

  • Daniel Jucker (2012). Die Professionalisierung der Psychomotoriktherapie in der Deutschschweiz. Lizentiatsarbeit. Zürich: Universität Zürich, Institut für Erziehungswissenschaften.
  • Interkantonale Hochschule für Heilpädagogik (2011). Suzanne Naville: Wege zur Psychomotoriktherapie. Booklet und Film.
  • Interkantonale Hochschule für Heilpädagogik (2011). Vom Purzelbaum zum Selbstkonzept. Booklet und Film.
  • Wachter, Brigitte, Burger, Regula & Senn, René (1995). Bewegung ist mehr als Bewegen. Film, produziert von appelsina pictures, Zürich.

Autoren: Dominik Gyseler, Dr. und Steff Aellig, Dr., HfH-Wissenschaftskommunikation