Zuerst die Beziehung, dann das Problem

Tagungsrückblick

Wenn Kinder in der Schule auffällig sind, richten Lehrpersonen häufig ihren ganzen Fokus auf das problematische Verhalten. Dabei wäre es förderlicher, zunächst ihre Beziehung zum Kind zu stärken.

Kontakt

Pierre-Carl Link Titel Prof.

Funktion

Professor für Erziehung und Bildung im Feld sozio-emotionaler und psychomotorischer Entwicklung

Alex Neuhauser Titel Dr. phil.

Funktion

Senior Researcher

Die Tagung ist ausgebucht, der grösste Raum der Hochschule bis auf den letzten Platz besetzt, online verfolgen nochmals so viele Leute vor ihren Bildschirmen das Geschehen. Der grosse Andrang zeigt: Verhaltensprobleme beschäftigen die Fachpersonen in der Schule wie kaum ein anderes Thema. Und von einer starken, tragfähigen Beziehung zum Kind versprechen sie sich ein wichtiges Puzzlestück in der Lösungsfindung. Denn das ist der Inhalt der Tagung. Warum genau dieser Fokus gelegt wurde, führt Institutsleiter Prof. Dr. Dennis Hövel in seinen einleitenden Worten aus: «Die Lehrer-Schüler-Beziehung macht etwa 30 Prozent des Lernerfolgs aus», zitiert er den bekannten neuseeländischen Bildungsforscher John Hattie. Und sie reduziert schwieriges Verhalten, wenn sie stark genug ist. Doch was genau stärkt diese Beziehung?

Zuerst der Kopf, dann das Verhalten. Prof. Dr. Allan Guggenbühl ist international tätig, sogar in Japan und Taiwan arbeitet man mit seinen Ansätzen. In der Schweiz ist der Psychologe und Psychotherapeut seit Jahrzehnten ein gefragter Ratgeber zu Themen wie Gewalt auf dem Pausenhof, benachteiligte Knaben in der Schule oder Jugend in der Krise. An der Tagung spricht er über die Beziehungsaufnahme bei schwierigen Kindern und Jugendlichen. Und macht schnell deutlich, was seine Grundidee ist: «Zuerst der Kopf, dann das Verhalten.» Was er damit meint: Eine Lehrperson muss zuerst wissen, was genau im Kopf eines Kindes oder Jugendlichen vorgeht. Was seine Anreize und Motive sind, den Unterricht zu stören. Oder seine Mitschüler zu bedrohen. Oder immer so schnell auszurasten.

Kontakt über die Innenwelt. Er baut deshalb die Beziehung über die Innenwelt des Kindes auf. Lebt das Kind gerade in einer Räuberwelt, ist der Jugendliche fasziniert von der Welt der Influencer? «Dort ist die Energie», sagt Guggenbühl. Wichtig ist es deshalb, nicht sofort über das Problem reden zu wollen. Sondern dem kleinem Kind ein Märchen zu erzählen, mit dem Jugendlichen über seine aktuelle Netflix-Serie zu sprechen. Guggenbühl nennt das mental movers. Wenn man dann die Worte und Bilder des Kindes aufnimmt, kann man bei ihm andocken. Wenn es nicht über die Sprache geht, empfiehlt Guggenbühl alternative Ausdrucksformen wie Malen, Singen oder Tanzen. Ziel ist es, mit der inneren Welt des Kindes in Kontakt zu kommen, egal wie.

Wie kann die Lehrperson die Beziehung zu Schüler:innen stärken?

Beschreibung der Grafik

Die Grafik zeigt aus Sicht der Lehrperson, was sie tun kann, um ihre Beziehung zu Schüler:innen zu stärken. Die folgenden Begriffe sind entlang einer Zickzack-Linie angeordnet, die nach oben und unten ausschlägt: eigene Gefühle erkennen, verlässlich sein, Lebenswelt des Kindes kennen, verzeihen können, Empathie haben und Fokus auf das Kind legen, nicht ein Problem.

Mehr Schutz, weniger Stress. Wie man sich diese innere Welt vorstellen kann, erläutert der Psychologe Prof. Dr. Henri Julius. Der Professor an der Universität Rostock ist weltweit einer der ersten, welche die Bindungstheorie für die Schule nutzbar gemacht hat. Kinder haben gemäss Julius ein angeborenes Bedürfnis nach Nähe und nach Exploration, also nach dem Erkunden der Umgebung. Eine Beziehung sorgt dabei für Schutz und die Regulation von Stress. «Das ist die physiologische Erklärung, warum die Lehrer-Schüler-Beziehung so wichtig ist», erklärt Julius. Die Hauptrolle spielt dabei der Botenstoff Oxytocin, bei uns bekannt als Kuschel-Hormon, weil es bei intensivem Kontakt stark produziert wird. Die Effekte von Oxytocin sind beeindruckend: mehr Vertrauen, mehr Empathie, besserer Zugang zur Innenwelt, weniger Ängstlichkeit. «Man muss Interventionen entwickeln, um an der Oxytocin-Schraube zu drehen», ist deshalb die logische Schlussfolgerung von Henri Julius.

Brücke bauen. Hier kommt Dr. phil. Maria Teresa Diez Grieser, Psychoanalytikerin und Psychotherapeutin in Zürich ins Spiel. Und damit das Mentalisieren. Vereinfacht gesagt meint dieses, das Kind umfassend wahrzunehmen, mit all seinen Gedanken, Gefühlen, Phantasien, Wünschen und Absichten – mit dem Ziel, es besser zu verstehen. Und das zu kommunizieren, damit das Kind sich weiterentwickeln kann. Zum Konzept gehört aber auch, sich selber in den Blick zu nehmen und Fragen zu stellen wie: Was hat das alles mit mir zu tun? Warum reagiere ich zum Beispiel so vehement, wenn ein Kind ein anderes bedroht? Nur so ist die Brücke möglich, die Diez Grieser bauen will: «Mentalisieren kann dazu führen, dass belastete Kinder mit uns gelingende Beziehungserfahrungen machen können.»

Verlässlichkeit und Verzeihen. Prof. Pierre-Carl Link ist federführend dabei, dieses Konzept in der Schweizer Heilpädagogik zu verankern. Auch die Frage an ihn: Was stärkt die Lehrer-Schüler-Beziehung? «Die zwei V», sagt der Co-Tagungsleiter: «Verlässlichkeit und Verzeihen.» Damit sind Fragen verbunden, die sich jede Lehrperson stellen kann: Bin ich verlässlich? Bin ich verfügbar? Kann ich in schwierigen Problemlagen mir selbst und dem Kind verzeihen, damit wir die Beziehung unbelastet stärken können? Letztlich geht es auch hier um das dritte «V», nämlich sich und das Kind besser zu verstehen – damit Verhaltensprobleme reduziert werden können.

Die Tagung «Beziehungen stärken, Verhaltensauffälligkeiten mindern» fand am 23. März 2024 an der HfH und online statt. Sie war ein Anlass des Instituts für Verhalten, sozio-emotionale und psychomotorische Entwicklungsförderung und wurde von Pierre-Carl Link, Prof. und Alex Neuhauser, Dr. geleitet. Kooperationspartnerin der Tagung war das Movetia-Projekt MentEd.ch – Bringing mentalisation-based education to Switzerland (022-1-CH01-IP-0046)

Autoren: Dominik Gyseler, Dr., und Steff Aellig, Dr., HfH-Wissenschaftskommunikation, März 2024