Schulische Inklusion auf dem gesellschaftlichen Prüfstand
Tagungsrückblick
Menschen mit einer Behinderung sollen ein gleichberechtigter Teil der Gesellschaft sein. Welche Rolle die Schule dabei spielt, war eines der Themen an der 36. Jahrestagung der Inklusionsforscher:innen in Zürich.
Frage der Einstellung. «Das Bildungssystem in der Schweiz orientierte sich im Laufe der Zeit immer stärker in Richtung Inklusion», sagt Claudia Ziehbrunner, Leiterin des Instituts für Lernen unter erschwerten Bedingungen an der HfH, in der Eröffnungsrede zum internationalen Publikum. Im Kern kann das zum Beispiel am Sonderpädagogik-Konkordat von 2011 festgemacht werden: Integration vor Separation, so lautet der Leitsatz. Doch schulische Inklusion kann nicht einfach verordnet werden. «Es ist entscheidend, welches Verständnis von Gerechtigkeit die Lehrpersonen in der Schule haben», sagt die HfH-Professorin. In einer Studie konnte sie zwischen verschiedenen Typen differenzieren. Um zwei zu nennen: Der eine Typus empfindet es dann als gerecht, wenn Kinder mit einer Behinderung die eigene Quartierschule besuchen. Für den anderen hingegen muss das schulische Angebot einfach ausreichend sein. Hier ist das Risiko für einen Bildungsverlauf, der auch separative Teile hat, erhöht – oder andersrum formuliert: «Positive Einstellungen gegenüber der Inklusion sind Prädiktoren für inklusionspädagogische Praktiken im Schulfeld», sagt Claudia Ziehbrunner.
Die Wozu-Frage. Dies führt zu einer zentralen Frage der Tagung: Wozu schulische Inklusion? Als Voraussetzung für die gesellschaftliche Teilhabe, antworten viele Fachleute. Ihre Argumentation: Schule ist ein prägender Sozialisations- und Erziehungsort für Kinder und Jugendliche. Sie soll Ungleichheiten ausgleichen und damit Chancengerechtigkeit ermöglichen, mit dem Ziel der gelingenden Partizipation an der Gesellschaft und eines möglichst autonomen Lebens. Wer als Erwachsener in der Gesellschaft teilhaben soll, darf deshalb nicht als Kind in der Schule separiert werden. Oder schärfer formuliert: Schulische Inklusion und gesellschaftliche Teilhabe sind untrennbar miteinander verzahnt. Franziska Felder findet diese normative Setzung problematisch. «Mittel und Ziel werden in der inklusions-pädagogischen Debatte oft gleichgesetzt», kritisiert die Professorin für Inklusion und Diversität an der Universität Zürich. «Es kann in Einzelfällen notwendig sein, dass ein Kind separativ geschult wird, um anschliessend gesellschaftlich inkludiert zu sein.» Werde beispielsweise ein gehörloses Kind integrativ geschult, bestehe die Gefahr, dass es die Gebärdensprache kaum oder gar nicht mehr lerne. Und damit bleibe ihm auch ein prägender Zugang zur Gehörlosenkultur versperrt. Im folgenden Video-Interview erläutert Franziska Felder darüber hinaus, inwiefern man Menschen mit Behinderung auch zu einer Teilhabe an der Gesellschaft befähigen muss.
Interview mit Prof. Dr. Franziska Felder (Universität Zürich) an der IFO 2023.
Selbstkonzept und Normalität. Vera Moser, Professorin an der Goethe-Universität Frankfurt, sieht diesen Punkt zwar, führt aber gute Gründe für die schulische Inklusion an: «Die Erfahrung von Separation gräbt sich tief in individuelle Selbstkonzepte ein», führt sie mit Blick auf die Persönlichkeitsentwicklung an. Zudem spielen gesellschaftliche Normalitätsvorstellungen eine wichtige Rolle: «Je mehr Menschen mit Behinderungen im unmittelbaren Lebensumfeld wie Nachbarschaft, Sportverein oder eben Schule leben, desto selbstverständlicher wird es auch, sie als potentielle Partner:innen, Kolleg:innen, Mitarbeiter:innen zu sehen», fasst sie die sogenannte Kontakthypothese zusammen. Das stelle eine sozialpsychologische Grundlage für gesellschaftliche Inklusionsprozesse dar. Ein Problem sieht Vera Moser hingegen in der Idee, Schule verändere die Gesellschaft. Man lade da der Schule zu viel auf: «Inklusion in Schulen hat keine unmittelbaren Auswirkungen auf Inklusion in anderen gesellschaftlichen Teilsystemen», hält sie klar fest. Vielmehr brauche es parallele Reformprozesse in allen gesellschaftlichen Teilsystemen im Sinne eines allgemeinen Modernisierungsschubs.
Teilhabe an der Gesellschaft. Damit ist man bei einer Frage, die noch kaum diskutiert wird: Was genau bedeutet denn eine gesellschaftliche Teilhabe von Menschen mit einer Behinderung? Ein komplexes Thema, weiss Kathrin Müller, Professorin für Inklusion und chancengerechtes Lernen an der HfH: «Zunächst einmal ist Teilhabe ist nicht statisch, sondern ein Anpassungsprozess zwischen allen Beteiligten», betont die Co-Leiterin der Tagung. Doch woran messen wir, wie dieser Prozess verläuft? «Teilhabe ist kein Wert an sich, sondern muss sich auf Werte beziehen», ist für Kathrin Müller entscheidend. In Demokratien würden wir Teilhabe in der Regel auf die Menschenrechte beziehen: «Alle Menschen sind gleichberechtigt, gleichwertig und gleichwürdig in der freien Entfaltung ihrer Persönlichkeit.» Dies schliesse Menschen mit Behinderungen umfassend ein. «Wie wir diese Werte jedoch in einer Gesellschaft leben und auch den Kindern und Jugendlichen pädagogisch vermitteln, bleibt eine spannende Frage», sagt Kathrin Müller. Die IFO-Tagung ermöglichte spannende Diskussionen zu dieser Frage.
Im folgenden Video kommen einige Teilnehmende zu Wort und beantworten dabei unter anderem die Frage «Was verstehen Sie unter gesellschaftlicher Teilhabe?» – und die Bildergalerie vermittelt einige visuelle Eindrücke der internationalen Tagung.
Statements von Teilnehmenden an der IFO 2023
An der IFO 2023 nahmen über 350 Personen teil (vor Ort und online).
Die Tagungsleitenden Ingo Bosse, Kathrin Müller und Daniela Nussbaumer (von links nach rechts).
Dr. Silvia Steiner (Bildungsdirektorin und Regierungsrätin, Kanton Zürich) und Prof. Dr. Barbara Fäh (Rektorin, HfH)
Prof. Dr. Andreas Köpfer (Pädagogische Hochschule Freiburg) hielt ein Referat zur international vergleichenden Inklusionsforschung.
Prof. Dr. Franziska Felder (Universität Zürich) referierte zum Thema «Inklusion und demokratische Partizipation».
Prof. Dr. Lisa Pfahl (Universität Innsbruck) leitete in ihrem Referat aktuelle Aufgaben und Entwicklungspotenziale für die Inklusionsforschung ab.
Islam Alijaj gab einen Einblick in seine bewegte Biografie und seinen Alltag mit Cerebralparese. Der Politiker kandidiert für den Nationalrat.
Die dreitägigige Jahrestagung der Inklusionsforscher:innen liess man am Freitag bei einem Apéro ausklingen.
Die 36. Jahrestagung der Inklusionsforscher:innen (IFO-Tagung) fand vom 8.–10. Februar 2023 an der Interkantonalen Hochschule für Heilpädagogik in Zürich statt. Sie war ein Anlass des Instituts für Lernen unter erschwerten Bedingungen. Die Co-Leitung besetzten Prof. Ingo Bosse, Prof. Kathrin Müller und Prof. Daniela Nussbaumer.
Autoren: Dominik Gyseler, Dr. und Steff Aellig, Dr., Wissenschaftskommunikation, HfH