Schule der Zukunft braucht mehr heilpädagogisches Know-how
100 Jahre HfH
Die heutige Schule steht unter dem Druck vieler Herausforderungen. Ein zentrales Element ist die Inklusion aller Schülerinnen und Schüler. Wie eine tragfähige Schule der Zukunft aussehen kann, zeigt der erste HfH-Hochschultag, der das Jubiläumsjahr 2024 abrundet.
Das Jubiläumsjahr, wie es war: Video-Rückblick auf die Anlässe zu «100 Jahre Bildung für Alle». Im Startbild: Rektorin Barbara Fäh.
Die Zukunft der Schule als Teil einer sich rasant verändernden Gesellschaft – dieses Thema treibt Silvio Herzog seit Jahren um. Für den Bildungsexperten und ehemaligen Rektor der Pädagogischen Hochschule Schwyz ist klar: «Die Situation hat das Potenzial für eine veritable Krise.» Was er damit meint, verdeutlicht er am Bild einer Waage. Auf der einen Seite drücken die Herausforderungen, die er vor allem in den Megatrends sieht. Dazu zählen die Digitalisierung, die Migration oder der Trend zur Individualisierung. Auf der anderen Seite sind die Kompetenzen der Fachpersonen in der Schule. Das wäre eigentlich das Gegengewicht. Doch in Folge des Fachkräftemangels verortet Herzog dort zunehmend weniger Masse. Immer mehr Anforderungen, immer weniger Ressourcen: So gerät die Schule zunehmend in eine Schieflage.
Silvio Herzog, Hauptreferent am HfH-Hochschultag, im Gespräch mit Steff Aellig von der HfH-Wissenschaftskommunikation. Im Fokus: Schule in Schieflage und Möglichkeiten der Entwicklung.
Schule in Schieflage? Diese Sorge will auf dem Podium niemand so richtig teilen. «Wir müssen gelassen bleiben», beschwichtigt die Zürcher Regierungsrätin und Bildungsdirektorin Silvia Steiner: «Manchmal bin ich froh, dass wir gar nicht so schnell unterwegs sind. Und jene Schulen, die sich verändern, nehme ich sogar als sehr agil wahr.» Jörg Berger leitet im zürcherischen Knonau eine solche Schule. «Es braucht Entwicklungen im Kleinen, vor Ort, um Visionen im Grossen zu formulieren», sagt er. Eine Gefahr sei es aber, sich im Alltagsgeschäft zu verzetteln: «Es wäre hilfreich, eine Hügellandschaft zu sehen, die sich am Horizont abzeichnet.» Für Barbara Fäh sind die Konturen dieser Landschaft klar: «Die Schule hat einen gesellschaftlichen Auftrag», sagt die Rektorin der Interkantonalen Hochschule für Heilpädagogik. «Tragfähigkeit und Leistungsfähigkeit», daran muss sich die Schule der Zukunft messen lassen.
Grammatik aufbrechen. Doch wie kommen wir dahin, angesichts der vielen Herausforderungen, über die sich das Podium einig ist? In seinem Referat plädiert Silvio Herzog dafür, «die Grammatik der Schule aufzubrechen». Heute werden Schülerinnen und Schüler in einer möglichst homogenen Gruppe in einem Klassenzimmer von einer Lehrperson unterrichtet. Diese Struktur muss durchbrochen werden. Herzog bringt das Beispiel der Zeit: «Die Schule der Zukunft rhythmisiert den Tag ausgehend vom Lernprozess der Kinder, kennt keinen nach Fächern gegliederten Stundenplan.» Damit rennt er bei Silvia Steiner grundsätzlich offene Türen ein. «Nutzen Sie die Freiheiten, die Sie haben!», ermutigt sie die zahlreichen Lehrpersonen im Publikum. «Das mit den Freiheiten tönt zwar gut», hakt Jörg Berger ein, «aber es ist auch wahnsinnig schwierig.» Um das zu illustrieren, steht er auf und deutet einen Spagat über einen imaginären Bach an: «So sieht unser Alltag aus: Wir stehen mit einem Bein an einem Ufer, mit dem anderen am gegenüberliegenden.» Einerseits wollen wir die Schüler:innen formativ beurteilen, gleichzeitig müssen wir ihnen aber alle sechs Monate ein Notenzeugnis präsentieren. «Das bringen wir in der Praxis fast nicht zusammen», so Berger.
Know-how im System. Für Barbara Fäh stellt sich hier eine entscheidende Frage: «Nutzen wir die Freiheit nicht? Oder haben wir das Know-how nicht, die Freiheit zu nutzen?» Sie stelle zum Beispiel oft fest, dass die Schulische Heilpädagogin nicht wirklich Teil des Teams ist – im Sinne einer echten Kollaboration. «Die Heilpädagogik muss anschlussfähig werden, damit ein Miteinander gelingt», ist die Rektorin der HfH überzeugt. Die Grundlage für eine tragfähige und erfolgreiche inklusive Schule ist für sie die Verzahnung von Regelpädagogik und Heilpädagogik in der Ausbildung. Sie verdeutlicht das mit dem Bild eines Reissverschlusses. Diese Verzahnung habe zwar begonnen, sei aber noch lange nicht da, wo sie sein müsse.
Beschreibung der Grafik
Die Grafik zeigt einen offenen Reissverschluss – der sich von rechts nach links verzahnen sollte, jedoch auseinanderklafft. Die obere Seite ist mit «HfH» und «Heilpädagogik» beschriftet, die untere Seite mit «PH» und «Regelpädagogik». Darüber steht als Überschrift: Warum Regelpädagogik und Heilpädagogik verzahnt werden müssen.
Der Reissverschluss ist in drei Abschnitte unterteilt. Ganz links, wo er noch ausenanderklafft, ist die «Vergangeheit», denn in der Vergangenheit war das spezifische Know-how in den Institutionen. In der Mitte befinden wir uns jetzt: In der «Gegenwart» ist das heilpädagogische Know-how zwar im System, aber meistens nur bei den ausgebildeten Fachpersonen. Die «Zukunft» ist das Ziel: Das heilpädagogische Know-how soll im ganzen System verteilt sein und es dadurch tragfähiger machen. Dies bekräftigt Rektorin Barbara Fäh in ihrem Statement: «Die Ausbildungen der HfH und der PH müssen im Zuge der schulischen Inklusion stärker verzahnt werden.»
Reissverschluss noch offen. Die angestrebte Verzahnung von Pädagogik und Heilpädagogik bringt neue Herausforderungen mit sich. So fragt Dorothea Christ, Präsidentin des HfH-Hochschulrates, bei ihrer Begrüssung kritisch: «Sollen alle Kinder und Jugendlichen in der Regelschule geschult werden? Sind die Schulen damit nicht überfordert? Und was passiert mit den Sonderschulen?» Der gesetzliche Auftrag der Integration sei zwar klar, dessen Umsetzung aber sehr anspruchsvoll. Das erleben auch die beiden HfH-Studentinnen Anita Gecaj und Susanna Wolf so. Sie sind angehende Schulische Heilpädagoginnen und haben beide Berufserfahrung in Regel- und in Sonderschulen. In der Reflexion der Podiumsdiskussion meint Anita Gecaj, die auf einer Aargauer Oberstufe arbeitet: «Das HfH-Studium bringt mir zwar viele neue Inputs. Aber wenn ich diese in die Praxis einbringen will, werde ich von den Regellehrpersonen oft gar nicht verstanden. Ich persönlich erlebe diesen Reissverschluss noch ganz offen.» Susanna Wolf arbeitet an einer Heilpädagogischen Schule und plädiert dafür, dass in den Bemühungen um diese Verzahnung das spezialisierte heilpädagogische Know-how nicht verloren geht. «In meiner Arbeit mit Kindern mit schwerem Autismus geht es nicht um Lesen und Rechnen, da brauche ich ganz andere Skills in meinem heilpädagogischen Professionsrucksack», so Wolf.
Unsichtbare Hürden. Auf dem Weg zur Inklusion gibt es also noch viele Baustellen. Das erlebt auch Nationalrat Islam Alijaj tagtäglich. «Die grösste Hürde ist das Mindset in der Gesellschaft», kommentiert er die Podiumsdiskussion. Der SP-Politiker sitzt mit Cerebralparese im Rollstuhl: «Schaut mich an: Ich wurde in der Schule jahrelang unterschätzt und beinahe in einer Institution untergebracht – jetzt bin ich Nationalrat.» Wie sollte das Mindset denn sein? «Man muss Rahmenbedingungen schaffen, damit alle Menschen ihr Potenzial entfalten können», lautet seine Parole, für die er sich nun auch auf der nationalen Bühne in Bern einsetzt. Wenn er einen Zauberstab hätte, dann würde er «alle von euch einen Tag lang in meinen Körper stecken, so dass ihr einmal sehen und fühlen könnt, was es heisst, sein Potenzial nicht vollumfänglich entfalten zu können», sagt Islam Alijaj zum Abschluss.
Autoren: Dominik Gyseler und Steff Aellig, HfH-Wissenschaftskommunikation (Dezember 2024)
«Inklusion braucht Know-how und Ressourcen,» sagen Susanna Wolf (Mitte) und Anita Gecaj, zwei HfH-Studentinnen, im Gespräch mit Steff Aellig.
«Das Mindset in der Gesellschaft ist die grösste Hürde», sagt Nationalrat Islam Alijaj im Gespräch mit Dominik Gyseler.
«Lehrpersonen müssen die Freiheiten nutzen, die sie jetzt schon haben», meint Silvia Steiner, Zürcher Regierungsrätin und Bildungsdirektorin.
«Ein grosser Schritt nützt nichts. Für eine Schule der Zukunft braucht es einen Sprung», ist Schulleiter Jörg Berger überzeugt.
«Euer Hochschultag war mit Abstand der interessanteste, kurzweiligste und sympathischste», schreibt die Vertreterin einer Hochschule im Nachgang des Abends.
«Licht eröffnet neue Räume der Begegnung», ist Lichtkünstler Gerry Hofstetter überzeugt.
«Haben Sie sie schon, unsere Festschrift ‹Hundert Jahre Bildung für Alle›?», fragt Rektorin Barbara Fäh die Gäste.
«Ein überaus gelungener Anlass, würdig fürs Jubiläum unserer Hochschule», meint Alt-Rektor Urs Strasser beim Apéro.
Herzlichen Dank an alle mitwirkenden Personen
Der erste HfH-Hochschultag fand am 29. November 2024 an der Interkantonalen Hochschule für Heilpädagogik (HfH) in Zürich statt. Wir bedanken uns herzlich bei allen Personen, die einen wertvollen Beitrag zum Gelingen des Abschlussevents des Jubiläumsjahrs beigetragen haben, insbesondere:
- Dorothea Christ, Chefin Hochschulamt Kanton Zürich und Präsidentin Hochschulrat HfH (Begrüssung)
- Silvio Herzog, Bildungsexperte und Berater bei «Mutaufbruch» (Hauptreferent und Podiumsgast)
- Silvia Steiner, Regierungsrätin und Bildungsdirektorin des Kantons Zürich und Präsidentin der Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektorinnen und -direktoren (EDK) (Podiumsgast)
- Jörg Berger, Co-Schulleiter Knonau, Geschäftsleitungsmitglied Verband Schulleiterinnen und Schulleiter Schweiz (VSLCH), Vize-Präsident von proEdu (Podiumsgast)
- Barbara Fäh, Rektorin HfH (Gesamtmoderation und Podiumsgast)
- Islam Alijaj, Nationalrat und Behindertenrechtsaktivist (Gesprächsgast)
- Susanna Wolf, Studentin Master Schulische Heilpädagogik (Gesprächsgast)
- Anita Gecaj, Studentin Master Schulische Heilpädagogik (Gesprächsgast)
- Steff Aellig, Wissenschaftskommunikation HfH (Moderation Podium)
- Dominik Gyseler, Wissenschaftskommunikation HfH (Moderation Podium)