Ausgangslage: (Re-)Produktion sozialer Ungleichheiten und inklusionsorientierte Professionalität
Studien belegen, dass die soziale Selektivität in der Schweiz sehr hoch ist. Der Schulerfolg hängt stark von der sozialen Herkunft ab und weitaus weniger von sogenannten Leistungen und Begabungen, wie man es vielleicht vermuten würde (Becker u. Schoch, 2018). Ethnografische Untersuchungen zeigen eindrücklich auf, wie das Schulpersonal an der (Re-)Produktion sozialer Ungleichheiten beteiligt ist und soziale Ungleichheiten im Bildungssystem in schulische Leistungen überführt werden: Etwa indem Schüler:innen mit Migrationshintergrund und aus weniger privilegierten Verhältnissen vermehrt heil- und sonderpädagogischen Massnahmen zugewiesen oder Schüler:innen mit gleicher Leistung beim Übergang von der Primar- in die Sekundarstufe I je nach Status der Eltern in mehr oder weniger prestigeträchtige Abteilungen empfohlen werden (Hofstetter, 2017). Die Schulische Heilpädagogik war in der Vergangenheit an der (Re-)Produktion sozialer Ordnungen beteiligt – und sie ist es noch heute (Weisser, 2017). Denn noch heute legitimieren Labels und etablierte Kategorien wie «sonderpädagogischer Förderbedarf», «Lernbehinderung» oder «Aufmerksamkeitsstörung» das heilpädagogische Handeln. Die Heilpädagogik begründet auf diese Weise ihre Profession durch die Zuständigkeit für eine als «von der Norm abweichend» bezeichnete Gruppe von Schüler:innen. Heilpädagogisches Handeln im 21. Jahrhundert hätte jedoch den Anspruch, so zu einer «Schule für alle» beizutragen, dass Behinderungen und Benachteiligungen vermieden und abgebaut werden. Vor dem Hintergrund sozialer Ungleichheiten ist deshalb eine (neue) Professionalität gefragt, die im Stande ist, über schulorganisatorische Fragen hinaus Prozesse des Ein- und Ausschlusses in den Blick zu nehmen, denn Schüler:innen werden zuallererst in der pädagogischen Kommunikation zu «Anderen» gemacht. Ein solches professionelles Denken und Handeln verstehen wir als «inklusionsorientierte Professionalität» (Hofstetter u. Koechlin, im Erscheinen).